KONVERTIT Der
israelische Publizist Israel Shamir kritisiert sein Land
Es gibt immer wieder Israelis, die sich aus
moralisch-ethischen Grьnden dem nationalen Konsens
verweigern, indem sie die Menschrechtsverletzungen und
die brutale Unterdrьckung der Palдstinenser mutig
anprangern. Zu ihnen gehцrt Israel Shamir, der 1947 in
Novosibirsk geboren wurde und 1969 nach Israel kam. Als
Soldat einer Fallschirmjдgereinheit kдmpfte er im Yom
Kippur-Krieg 1973. Lange Zeit verlief sein Leben in
Israel unspektakulдr. Er ьbersetzte den Talmud, James
Joyce, Homer und andere Klassiker ins Russische. Er
arbeitet fьr das israelische Radio, und schreibt fьr
eine Zeitungen in Israel, Russland und Japan.
Das brutale Vorgehen des israelischen Militдrs gegen die
Al-Aqsa-Intifada der Palдstinenser bewirkte in ihm 2001
einen Sinneswandel. Er beschreibt ihn durch folgende
Anekdote: Eine jьdische Geschichte erzдhlt von einen
stummen Kind, das trotz intensiver дrztlicher Bemьhungen
niemals ein Wort sprach. Eines Tages, im
fortgeschrittenen Alter von zehn Jahren, lieЯ es bei
Tisch plцtzlich seinen Lцffel fallen und rief: "Die
Suppe ist salzig!" Die Eltern fragten ihr Kind erstaunt,
warum es all die Jahre geschwiegen hatte und es
antwortete: "Bis jetzt war immer alles in Ordnung."
Shamir begann, ьber die MenschenrechtsverstцЯe, die
angeordneten, gezielten Hinrichtungen von Palдstinensern
durch die israelische Armee und die Zerstцrung ihrer
Existenzgrundlagen zu schreiben. Hinzu kam, dass er zum
Christentum konvertierte, wie dies auch Mordechai Vanunu
tat; dies wird ihm seitens des Judentums niemals
verziehen. Damit begannen seine Schwierigkeiten. Hinzu
kam, dass er dem Beirat von "Deir Yassin Remembered"
angehцrt, einer Organisation, die das Massaker jьdischer
Terrororganisation an den Bewohnern des Dorfes Deir
Yassin vor dem Vergessen bewahren will.
Shamir vertritt wie der verstorbene palдstinensische
Literaturwissenschaftler Edward Said die
Einstaatenlцsung fьr Israel/Palдstina. In der
vorliegenden Essaysammlung spricht sich der Autor fьr
die "Befreiung Palдstinas" von israelischer Okkupation
aus. Er setzt sich aber noch fьr eine weitere Befreiung
ein, und zwar der des цffentlichen Diskurses ьber dieses
Thema. Fьr ihn findet eine bizarre Debatte ьber den
Antisemitismus in Europa statt. "Ich bin besonders
besorgt ьber die Anti-Antisemitismus-Propaganda, die den
erhцhten Stellenwert der Juden in den Kцpfen noch
verstдrkt, als ob der Hass auf einen Tьrken oder einen
Deutschen besser wдre als der auf einen Juden." Die
Deutschen hдtten die wichtigste Lektion des Zweiten
Weltkrieges nicht verinnerlicht: "Juden oder Nichtjuden
- seien es nun Deutsche, Polen oder Palдstinenser -
sollten alle gleich behandelt werden." Die Organisatoren
der OSZE-Konferenz gegen Antisemitismus 2004 in Berlin
hдtten auch Shamir einladen sollen. "Der unaufhцrliche
›Kampf gegen den Antisemitismus‹ ist in der Tat nicht
die Verteidigung einer kleinen, verfolgten Nation. Wenn
dem so wдre, dann wьrden Sie die belagerten
Palдstinenser verteidigen. Es ist auch kein Kampf gegen
den Rassismus, denn Sie verteidigen das rassistische
System der Apartheid in Palдstina ... Es handelt sich
eher um einen umgekehrten Antisemitismus, da den Juden
Gleichheit abgesprochen wird und sie ьber die
Normalsterblichen erhoben werden."
Der Autor macht in seinen Essays einen Streifzug durch
seine Wahlheimat und kommentiert die groteske Situation
freimьtig und bissig-literarisch. So beschreibt er die
Lage der russischstдmmigen Israelis als hochgradig
frustriert und "konfus". Die meisten von ihnen hдtten
nie Kontakt zum Judentum gehabt und interessierten sich
auch nicht dafьr. Viele von ihnen werden nicht als "wahre
Juden" betrachtet, und ihre Toten mьssen sie hinter der
Friedhofsmauer begraben, auf einem Fleck, der fьr
Personen mit "zweifelhaften Ursprung" reserviert ist.
Nach der Explosion in der Diskothek in Tel Aviv wurde
dies fьr alle sichtbar: Die jьdisch-orthodoxen
Totengrдber weigerten sich, die toten russischen Mдdchen
auf einem jьdischen Friedhof zu begraben. Nicht viel
besser ergeht es den nordafrikanischen Einwanderern; sie
sind "gebrochene Menschen". 75 Prozent der
Gefдngnisinsassen sind Sepharden. Politiker wie Arie
Deri, Yitzhak Mordechai, Aaron Abu Hatzera, Schlomo Ben
Ami oder der Verleger Ofer Nimrodi scheiterten wegen
ihrer sepharischen Abstammung. "Sobald sich ein
orientalischer Jude nach oben arbeitet, wird er vom
System wieder zurьckgestuft."
Sehr freimьtig schreibt Shamir auch ьber die brutale
Gewalt der Siedler. Indem sie das Land zerstцren, "bereiten
sie sich ihr eigenes neues Exil". Neben den "Chauvinisten"
gebe es aber auch "gute Israelis". Der Unterschied
zwischen beiden Gruppen ist aber nur ein marginaler.
"Die jьdischen Chauvinisten wollen ein Palдstina ohne
Palдstinenser. Sie wollen Chinesen fьr die Feldarbeit
ins Land holen und Russen, die die Chinesen ьberwachen
sollen." Die liberalen Israelis kцnnen sich eine
gemeinsame Zukunft vorstellen, "in der die Palдstinenser
ihre bewachten Ghettos verlassen und zur Arbeit nach Tel
Aviv kommen dьrfen". Beiden sei jedoch die "Zurьckweisung
Palдstinas" gemeinsam.
Shamir vertritt die These, dass die Welt zurьck ins
Mittelalter befinde und Israel dabei seine "feindselige
Haltung gegenьber dem Christentum wieder aufleben lдsst".
Als Beleg dafьr zitiert er einen Vorfall, bei dem ein
Soldat aus seinem Merkava Panzer eine Rakete auf die
Madonnenstatue auf der Kirche der Heiligen Familie in
Bethlehem abfeuerte. Zu Recht behauptet der Autor, dass
die westliche Welt "ein getrьbtes Bild der Geschehnisse
im Mittleren Osten" habe. Israelis begehen "terroristische
Taten an Palдstinensern, doch die Bezeichnung
›Palдstinenser‹ ist heute ein Synonym fьr Terrorismus
geworden ... Israel und die USA missachten die
internationalen Gesetze, doch ihre Gegner werden als
›Schurkenstaaten‹ dargestellt." Das Buch ist eine
freimьtige Darstellung Israels und seiner Politik, die
viele so nicht sehen und wahrhaben wollen.
Israel Shamir: Blumen aus
Galilдa. Schriften gegen die Zerstцrung des Heiligen
Landes, ProMedia, Wien 2005, 214 S., 17,90 EUR |